Dem Leben Würde geben

Indien ist zweifellos ein Land extremer Gegensätze. Einerseits bietet es paradiesische Sandstrände mit wunderschönen, faszinierenden Landschaften und eine überaus interessante Kultur und Geschichte. Andererseits herrscht in weiten Teilen eine bedrückende Armut, die in erster Linie Frauen und insbesondere "Unberührbare", die aus indischer Sicht häufig gesellschaftlich ausgegrenzt werden, trifft. Daher habe ich mich in meiner aktiven beruflichen Laufbahn, besonders in meiner Zeit als Entwicklungspolitiker im Deutschen Bundestag, immer wieder mit den Ursachen dieser ungeheuren Missstände beschäftigt. Drei Mal hatte ich sogar die Gelegenheit, mir direkt vor Ort erste, allerdings oberflächliche Eindrücke über die weltweit größte "Demokratie" zu verschaffen: Zunächst besuchte ich 1996 auf Einladung indischer Gewerkschaften als 2. Vorsitzender der IG Metall indische Betriebe. Dieser Besuch war von zahlreichen Diskussionen und Betriebsbesuchen geprägt, so dass mir keine Zeit blieb, den Alltag der Inder in Stadt und Land näher kennenzulernen. Ähnlich verlief meine zweite Indienreise. Nachdem ich 1998 Arbeitsminister geworden war, bot mir die indische Regierung Gespräche mit deren Vertretern und anderen wichtigen Repräsentanten des Landes an. Wie bei meiner Reise zuvor nahmen die Unterredungen derart viel Raum ein, dass ich mit den Lebensverhältnisse armer Inder wieder nicht in Berührung kam.
Erst meine dritte Reise mit der Organisation "Exposure- und Dialog-Programm e.V." eröffnete mir diese Möglichkeit. Von der Chance, einen insgesamt zweiwöchigen Aufenthalt in Entwicklungsländern zu verbringen und tatsächlich die Existenzbedingungen von Menschen aus der sozial und wirtschaftlich untersten Schicht kennenzulernen, hatte ich bereits von meinen früheren Kollegen im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestags erfahren. Schon zu jener Zeit hätte mich eine solche Erfahrung gereizt, aber leider standen damals andere Themen und Termine im Vordergrund.
In der Entwicklungszusammenarbeit befasste ich mich beispielsweise intensiv mit der Vergabe von Mikrokrediten und Mikroversicherungen sowie der Entwicklung von Sozialstrukturen in den Entwicklungsländern - Kenntnisse, die mir bei meinem Indienbesuch zugute kommen sollten. Im Frühjahr 2010, nach meinem Ausscheiden aus dem Bundestag, war es dann endlich soweit: Ich erhielt eine Anfrage von einer Mitarbeiterin des "Exposure- und Dialog-Programms", ob ich mir vorstellen könnte, in Zusammenarbeit mit SEWA, einer Frauen-Selbsthilfegewerkschaft in Indien, einige Tage in einem indischen Dorf zu verbringen und dort über meine Erfahrungen mit den Mikroversicherungen zu berichten und die dortige Sicht aufzunehmen. Das konnte ich. So flog ich mit insgesamt weiteren 15 Teilnehmern, darunter ein Beamter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, zwei Manager von der Allianz und einer Entwicklungsbank und Mitarbeiterinnen der ÖTV und kirchlichen Wohlfahrtsgesellschaften, nach Indien.
Nach der Ankunft besuchten wir zunächst eine mehrtätige Schulung in Ahmedabad, die mit 5,6 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt und das wirtschaftliche Zentrum im indischen Bundestaat Gujarat ist. In diesem Rahmen machten wir uns nicht nur mit Sitten und Gebräuchen vertraut, sondern beschäftigten uns auch mit Ghandi. Dessen Lehren der Selbstbeherrschung und Selbstverpflichtung zum Wohle aller beeindruckten mich sehr und gaben mir den Anstoß, mich nach meiner Reise intensiv mit Ghandis Wirken zu befassen.
Die Mitarbeiter von SEWA entschieden, dass ich eine knappe Woche lang bei Shantaben, einer "Unberührbaren", in einem Dorf 150 Kilometer außerhalb von Ahmedabad leben und mit ihr Wohnung, Essen und Arbeit, kurz den gesamten Alltag teilen sollte. Nur nachts hatte ich das Privileg, in einem kargen Raum, wo sich normalerweise die Vertreter des Dorfes trafen, auf dem Boden zu schlafen und das Plumpsklo des Dorfvorstehers zu benutzen. Offen gestanden musste ich mich erst daran gewöhnen, dass sich die Toilette außerhalb unserer Unterkunft befand und es kein Toilettenpapier gab, sondern nur ein Wasserbecken und einen Wasserschöpfer, mit dem ich mich waschen konnte. Eine Dusche? Schön wäre es gewesen.
Die Dorfbewohner empfingen uns - mich begleitete eine Mitarbeiterin der Entwicklungsarbeit und zwei Dolmetscherinnen von SEWA - mit Neugier. Sie waren überrascht, als sie hörten, dass ich, "der Mann aus Übersee", den Alltag einer "Unberührbaren" teilen wollte, die nicht zur Gemeinschaft zählte und deren Hütte deshalb niemand aus dem Dorf betrat. Schier unglaublich fanden sie es, dass sie es sogar mit einem einstigen Minister zu tun hatten, der Interesse für dieses Dorf und zumal noch für eine Frau aus der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie zeigte, denn: Niemals, wie mir die Dorfbewohner versicherten, käme ein indischer Regierungsangehöriger auf die Idee, in ein solch abgelegenen Ort zu kommen, um die Probleme der ärmsten Menschen nicht nur kennenzulernen, sondern auch am eigenen Leib zu erfahren. Meine "Gastmutter" Shantaben begrüßte mich sehr herzlich. Ich kannte sie bereits von meinem Vorbereitungsseminar. Von Anfang an verstand ich mich mit der etwa Mitte vierzig Jahre alten Frau gut. Trotz ihrer Armut und fehlenden Schulausbildung war sie aufgeschlossenen und geschmackvoll gekleidet. Sie lebte in einer vier mal fünf Meter großen Hütte aus getrockneten Kuhdung und Stroh. Als Dach diente eine Wellblechpappe. Der winzige Raum bestand aus zwei Teilen: aus einer Schlafecke, die Shantaben mit ihrem Lebensgefährten teilte, und dem Aufenthaltsbereich, wo sich eine offene Feuerstelle befand. Die Wasserversorgung lief über einen Schlauch direkt vor der Hütte, um den sich stehendes Wasser mit Moskitos und Fliegen ansammelte.
Die Mahlzeiten waren wenig abwechslungsreich. Entweder gab es Reis oder Gemüse, Fleisch hingegen nie - und auch kein Besteck. Wir mussten das Essen mit der rechten Hand einnehmen. Die linke gilt in Indien als unrein, weil sich die Inder damit nach der Toilette den Po reinigen. Shantaben bereitete die Mahlzeiten mit einem offenen Feuer in ihrer Hütte zu - ein sehr gefährlicher Vorgang, weil dadurch schnell ein Brand entstehen konnte. Zudem führten die fehlenden Abzugsmöglichkeiten oft zu Krankheiten. Daher schlug ich der Dolmetscherin vor, Geld zu sammeln und einen Ofen zu kaufen, schließlich sollte mein Besuch dauerhafte Verbesserungen bewirken. Die Dolmetscherin griff meine Idee auf, betonte aber, dass jede Hütte im Dorf einen Ofen bekommen sollte.



Der Plan ließ sich erst wenige Wochen nach meiner Rückkehr nach Deutschland mithilfe der Volksbank Westrhauderfehn an der Ostsee verwirklichen. Einer ihrer Mitarbeiter lud mich zu einem Vortrag ein. Ein Honorar verlangte ich nicht, stattdessen eine Spende für die Öfen. Die Volksbank war einverstanden, so dass schließlich die stolze Summe von 3000 Euro zusammen kam, die ich an SEWA überweisen ließ. Daraufhin kauften die SEWA-Mitarbeiterinnen in Indien die Öfen und verteilten sie an die Frauen des Dorfes. Für sie stellte dieses für uns so selbstverständliche Haushaltsgerät eine neue und vor allem viel bessere Lebensqualität dar. Shantaben hatte doppelten Grund zur Freude: An diesem Tag sah sie nach vielen Jahren endlich ihre Söhne wieder, die eigens aus diesem Anlass ihre Mutter besuchten.




Die privaten Lebensumstände von Shantaben waren für indische Verhältnisse ungewöhnlich. Wie viele indische Frauen wurde sie als junges Mädchen mit einem Mann verheiratet, von dem sie vier Kinder bekam. Da sie sich in ihrer Ehe unglücklich fühlte, trennte sie sich von ihm und lebt nun mit ihrem jetzigen Partner zusammen. Die Kinder blieben beim Vater.
Während meines Besuchs hielt sich Shantabens Lebensgefährte sehr zurück. Offensichtlich war es ihm suspekt, dass Shantaben plötzlich "Leute aus Übersee" nach Hause brachte. Allerdings möchte ich ihn betreffend einen wichtigen Punkt herausstellen: Dank der Mikroversicherung, die Shantaben 2008 abschloss, konnte er seine Krebserkrankung behandeln lassen. Ob er vollständig genesen ist, entzieht sich meiner Kenntnis.



Ihren Lebensunterhalt bestritt Shantaben allein mit ihrer körperlichen Kraft und ihrem Durchhaltevermögen. Morgens stand sie sehr früh auf, um die drei Rinder zu melken, zu füttern und auszumisten. Ihr Lebenspartner half ihr dabei nur wenig. Die Tiere gehörten dem Dorfvorsteher, der sie ihr zur Sicherung ihres täglichen Lebensbedarfs überlassen hatte.
Danach begleitete ich sie auf das Feld, das drei Kilometer von der Hütte entfernt lag. Der Weg dorthin führte durch die Reisfelder des Dorfvorstehers. Dort schlug sie Gras für die Rinder, riesige Grasbüschel, die sie auf dem Kopf nach Hause trug. Ich selber habe versucht, das Gras zu tragen. Doch ich hielt nur einen Kilometer durch, obgleich ich von meiner früheren Tätigkeit als Fliesenleser gewohnt war, erhebliche Lasten zu tragen. Für Shantaben, wie sie später eingestand, war es das erste Mal, dass ein Mann, dazu noch ein früherer Minister, ihr - wenn auch nur kurz - diese Last abgenommen hatte.
Nach ihrer Rückkehr vom Feld musste Shantaben wieder die Rinder versorgen und schließlich für sich und ihren Partner die Mahlzeiten vorbereiten. Freizeit, ein freies Wochenende, gar Ferien kannte sie nicht.




Einen Tag in der Woche arbeitete sie bei SEWA, deren Mitarbeiterinnen über wichtige Themen wie Selbstorganisation, Geburtshilfe, Sexualität, Fragen der Hygiene, der Gesundheitsversorgung, Mindestversicherungen gegen Krankheit und Lebensrisiken informieren. Auch dorthin begleitete ich sie. Shantaben hatte die Aufgabe, Mütter und ihre Kinder von der Teilnahme an einem Impf-Programm, das von SEWA angeboten wird, zu überzeugen.
Als wir ankamen, erblickten wir gestikulierende Männer mit einem Stock. Was war passiert? Ich schaute mich um - und sah den Grund ihrer Aufregung: Eine Kobra lag vor ihnen und hatte sich schon drohend aufgerichtet. Niemand hielt es für nötig, die Schlange zu töten oder zumindest wegzubringen. Das sei, wie mir eine deutsche Teilnehmerin unseres Programms erklärte, in Afrika undenkbar. Dort wäre eine Schlange sofort getötet worden.
Mittlerweile hatte sich die Kobra beruhigt und kroch von dannen. Künftig musste ich mich nun darauf einstellen, in der Dunkelheit auf die Giftschlange zu treten. Wahrlich kein angenehmes Gefühl. Die Inder dagegen störten sich nicht an dem Verbleib der Schlange und liefen unbekümmert weiter barfuß durch ihr Dorf.
An jenem Abend bei SEWA besprachen die Frauen die Ergebnisse der Impfaktion. Shantaben setzte sich wie gewohnt außerhalb des Kreises auf den Fußboden - eine "Unberührbare" darf sich auf keinen Stuhl niederlassen und schon gar nicht ihren Gesprächspartnern auf Augenhöhe begegnen. Stattdessen spielte auf dem unbesetzten Hocker ein Kind. Ein für uns Europäer unverständlicher Brauch, den unsere Dolmetscherin nicht mehr zuließ. Sie forderte den Jungen auf, sich woanders hinzusetzen und bat Shantaben, Platz zu nehmen. Doch diese winkte ab und zögerte, zu tief war in ihr die alte Tradition verwurzelt. Nun wandten sich auch die übrigen Frauen an Shantaben und baten sie ebenfalls, in ihrer Runde Platz zu nehmen. Tatsächlich stand sie auf, setzte sich auf den Stuhl und wurde auf diese Weise ein gleichberechtigtes Mitglied unserer Gemeinschaft. An diesem Beispiel ist erkennbar, dass es oft die kleinen Schritte sind, die dem Leben seine Würde zurückgeben.
Nach dem Aufenthalt bei Shantaben trafen wie Teilnehmer des Programms uns noch einmal zu einem Nachbereitungs-Seminar und trugen das Erlebte wie Mosaiksteine zusammen. Dadurch verstanden wir jetzt besser, unter welchen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen die Menschen in Indien leben. Zudem hatten wir nun eine stärkere Sensibilität für die notwendigen Hilfestellungen. Dieses Verständnis hätten wir niemals erlangt, wenn wir uns auf die Lektüre von Sachbüchern und Statistiken über die Anzahl hungernder Familien beschränkt hätten.
Natürlich gaben wir uns nicht der Illusion hin, dass wir Indien in seiner Gänze erfasst hatten, nur weil wir ein paar Tage lang das Leben mit einigen Frauen und Männern aus der untersten Gesellschaftsschicht geteilt haben. Vielmehr dienen unsere Kenntnisse von nun als Ausgangspunkt für die künftige Entwicklungszusammenarbeit, und zwar in dem Sinne, dass die Menschen nicht reine Adressaten unserer Wohlfahrtstätigkeiten sind, sondern gleichberechtigte Partner.